Gerhard Kaspar, einer der Autoren von der Website „Idealism Prevails“ schreibt von seiner Beeinträchtigung und was er im Alltag damit verbindet. Was bedeutet es, „behindert zu sein oder zu werden“? Dieser Frage geht er in diesem sehr persönlichen Kommentar nach. Sehr gerne möchten wir diesen Beitrag mit auch unseren Lesern und Leserinnen teilen.

Darf man das überhaupt sagen? Es heißt doch, politisch korrekt, man sei ein „Mensch mit besonderen Bedürfnissen“. (Kommentar: Bizeps.or.at) Aber haben wir nicht alle besondere Bedürfnisse? Manche von uns brauchen bestimmte Dinge mehr als andere. (Link: Fetischismus) Sind wir somit alle auf die eine oder andere Art be-hindert? Oder wie wäre es mit dem Begriff „eingeschränkt“? Aber auch hier die Nachfrage: Ist nicht jeder von uns irgendwo eingeschränkter als der andere?

Sobald ein Rollstuhlfahrer auf eine Kante stößt, die höher ist, als er sie alleine bewältigen kann, ist er/sie behindert an der Fortsetzung dieses Unterfangens. Oder: In dem Moment, in dem ein Sehschwacher oder Blinder sich nicht mehr anhand von Leitlinien oder Geräuschen orientieren kann, um sein Ziel zu finden, ist eine Behinderung gegeben. Das Wort ist goldrichtig und drückt genau das aus, worum es tatsächlich geht.

Aber warum sage ich in meinem Fall: „Ich bin behindert“? Weil das Wesen der Behinderung nicht allein darin bestehen sollte, dass man etwas einfach nur nicht kann, sondern vielmehr, dass man etwas nicht ohne fremde Hilfe kann:

Als ich im Krankenhaus nach meiner Operation aufwachte und erleben musste, dass ich meinen linken Arm und meine Hand gar nicht und mein Bein teilweise nicht mehr steuern konnte (Beitrag: www.augsburger-allgemeine.de), wurde ich zwar von einem Anfall von Traurigkeit überwältigt, aber als Behinderung erlebte ich es noch nicht. Auch während der Zeit der Rehabilitation in der Neuro-Klinik hatte ich nicht das Gefühl, dass dies mein Leben wirklich stark beeinträchtigen würde. Ich konnte vieles machen, und es war immer jemand da, wenn ich Hilfe benötigte.

Dann war ich zu Hause und alleine, lehnte die Heimhilfe ab, da ich für den Wiedereinstieg in die Arbeit versuchen wollte, selbstständig zu werden. Und dann bemerkte ich, was Behinderung wirklich bedeuten muss: Es gab immer wieder Momente, in denen ich irgendetwas einfach nicht tun konnte. Ganz gleich, wie sehr ich es auch probierte oder wollte, mit welchem verzweifelten Kraftaufwand ich mein Tun zu verfolgen versuchte – es ging nicht. Jetzt war der Moment da, in dem ich zu jemand völlig Fremden sagen musste:

Bitte helfen Sie mir, ich kann das nicht, ich bin behindert!

Erst zu diesem Zeitpunkt habe ich wirklich verstanden, was Behinderung wirklich ist – und was es nicht ist.

Die Demütigung, die ich dabei empfunden habe, die unglaubliche Erniedrigung, dass ich etwas nicht wie sonst selbst machen konnte, sondern dafür jemand anderen zwingend brauchte, war das, was mich am Boden zerstörte. Und erst jetzt konnte ich verstehen, dass es dieses Gefühl sein muss, mit dem alle Menschen mit Behinderungen zu kämpfen haben.

Wenn du einen Menschen, den du nicht kennst, von dem du nicht weißt, wie er reagieren wird, bitten musst, etwas für dich zu tun, was du selbst nicht kannst, aber unbedingt brauchst, dann erst kannst du sagen, dass du behindert bist.

Offiziell hatte ich schon längere Zeit einen Behindertenstatus, denn ich bin seit meinem 13. Lebensjahr auf dem rechten Auge blind, habe aber auch andere Beeinträchtigungen. Daher wurde ich in den Kreis der sogenannten begünstigten Behinderten aufgenommen, schon vor Jahren. Diesen Status habe ich nie (aus)genützt, da meine Einschränkungen mein Leben nie so weit beeinträchtigt haben, als dass ich auf fremde Hilfe tatsächlich angewiesen gewesen wäre.

Man kann nicht dreidimensional sehen mit nur einem Auge; aber wie viele Berufe oder Alltagssituationen existieren, in denen es zwingend notwendig ist, das Auge für die virtuelle Realität zu brauchen? Klar: In Zukunft wird das immer mehr der Fall sein, aber es betrifft mich dann hoffentlich nicht mehr. Meine Arbeitskraft und auch mein Alltag waren bisher sehr wenig beeinträchtigt durch meine körperlichen Befindlichkeiten. Hin und wieder stolperte ich vielleicht über Hindernisse oder bin gegen etwas gelaufen, das sich quasi in meinem toten Winkel befand, aber ansonsten konnte ich alles komplett selbstständig bewältigen.

Derzeit aber bin ich auf fremde Hilfe angewiesen, und da ist es gut zu wissen, dass das Versprechen meiner Partnerin auf unserem gemeinsamen Lebensweg, „In guten wie in schlechten Zeiten“, nicht nur so dahingesagt war. Zum Glück findet sich auch darüber hinaus nicht nur im engsten Kreis Unterstützung.

Wir Menschen sind nicht nur eine sehr grausame (Beitrag: Aktion T4), sondern auch eine sehr soziale Spezies. Ich habe nicht einen Menschen bisher getroffen, der oder die mir auf meine Bitten hin nicht geholfen hätte, wenn ich Hilfe bedurft habe. Nur einmal, als ich an der Kasse im Supermarkt stand und fragte: „Bitte, könnten Sie mir helfen, die Sachen einzuräumen?“, entgegnete man mir unwirsch, dass ich das gefälligst selbst machen solle. Da war ich schon ein klein wenig enttäuscht, diese Art von Unsensibilität zu erfahren, die es natürlich auch gibt. Aber kaum hatte ich fortgesetzt mit den Worten: „Es tut mir leid, ich kann nur eine Hand bewegen“, war auch dieser Mensch plötzlich sehr schnell bereit, zu helfen.

Es liegt also an uns allen, wie wir mit den Behinderungen anderer Menschen umgehen, und ob wir sie sehen oder übersehen.